Irrationales Desinteresse? Musterfeststellungsklage und Unternehmen

Dr. Matthias Birkholz
Mittwoch, der 14. November 2018

Die Musterfeststellungsklage steht Unternehmen nicht offen. Nur Verbraucher können sich ihr anschließen. Gleichwohl setzt der Umstand, dass eine Musterfeststellungsklage eingereicht wurde, auch Unternehmenslenker möglicherweise unter Zugzwang, entsprechende Ansprüche ihrer Unternehmen ebenfalls rechtshängig zu machen.

Schadensersatzansprüche von Käufern von Diesel-Fahrzeugen der Marken VW, Audi, Seat und Skoda, in denen ein Motor des Typs EA 189 verbaut ist, drohen Ende 2018 zu verjähren. Das war der Anlass für die Einführung des Instituts der Musterfeststellungsklage am 1. November 2018.

Nur Verbraucher können sich Musterfeststellungsklage anschließen 

Diese eröffnet Verbrauchern die Möglichkeit, sich einer von einem klagebefugten Verband anhängig gemachten Musterfeststellungsklage anzuschließen. Erklärtes Ziel des Gesetzes ist es, ein Instrument der kollektiven Rechtsverfolgung ohne Prozesskostenrisiko für den Verbraucher zu schaffen, um so dem „rationalen Desinteresse“ der Verbraucher an einer Anspruchsverfolgung entgegenzuwirken.

Unrechtmäßige Verhaltensweisen von Akteuren schädigen nämlich – wie im Falle der Dieselmanipulationen – häufig eine Vielzahl von Verbrauchern. Diese sahen allerdings in vielen Fällen, weil der erforderliche Aufwand aus der Sicht des Geschädigten im Verhältnis zur Schadenshöhe unverhältnismäßig scheint, in der Vergangenheit davon ab, Schadensersatz- oder Erstattungsansprüche gerichtlich durchzusetzen zu versuchen. Für Verbraucher verbessert sich die Situation durch die Einführung der Musterfeststellungsklage damit erheblich.

Bei der erstinstanzlich vor dem Oberlandesgericht zu erhebenden Musterfeststellungsklage geht es um die Feststellung von Vorfragen, die für die Ansprüche/Rechtsverhältnisse von Verbrauchern vorgreiflich sein sollen. Die im Musterverfahren ergehende Entscheidung entfaltet für die anschließenden Individualverfahren der Verbraucher unter bestimmten Voraussetzungen Bindungswirkung.

Unmittelbar nach Inkrafttreten des Gesetzes hat der VZBV (Verbraucherzentrale Bundesverband) zusammen mit dem ADAC eine entsprechende Musterfeststellungsklage gegen VW eingereicht. Diese betrifft Käufer von Dieselfahrzeugen, nicht allerdings Leasingnehmer. Käufer, die Verbraucher sind, können sich nun ohne Kostenrisiko durch bloße Eintragung im neuen Klageregister dieser Klage anschließen und auf diese Weise die drohende Verjährung ihrer Ansprüche verhindern. Dann können sie abwarten, wie die Musterfeststellungsklage ausgeht, bevor sie im Wege der Individualklage ihre individuellen Ansprüche durchzusetzen versuchen.

Pflicht zur Prüfung und Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen 

Diese einfache Möglichkeit haben Unternehmen, die Dieselfahrzeuge in ihrem Fuhrpark haben, nicht. Demensprechend scheinen Unternehmen das Thema Musterfeststellungsklage gegenwärtig mehr oder weniger auszublenden. Das könnte sich als folgenschwerer Fehler erweisen, der Schadensersatzansprüche gegen die Unternehmenslenker auszulösen geeignet sein könnte. Die Frage nach der Existenz derartiger Schadensersatzansprüche ist – zumindest dem Grunde nach – nämlich für Privatpersonen und Unternehmen gleich zu beantworten. Wenn die Musterfeststellungsklage gegen VW letztlich erfolgreich sein sollte, werden die Leitungsorgane von Unternehmen mit entsprechenden Fahrzeugbeständen die Frage beantworten müssen, wie sie sich zum Ende des Jahres 2018 hin diesbezüglich positioniert haben. Falls sie nicht rechtzeitig Maßnahmen zur Unterbrechung der Verjährung der parallel gelagerten Ansprüche ihrer Unternehmen getroffen haben sollten, droht ihnen möglicherweise Ungemach.

Sie sind nämlich dem Legalitätsprinzip verpflichtet und danach grundsätzlich gehalten, Ansprüche der Gesellschaft gegen Dritte auch durchzusetzen. Insbesondere sind sie verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass diese Ansprüche rechtzeitig geltend gemacht und der Eintritt der Verjährung durch geeignete Maßnahmen verhindert wird. Dabei unterliegt die Entscheidung darüber, ob etwaige Ansprüche gerichtlich geltend gemacht werden müssen, grundsätzlich dem im Rahmen der Anwendung der business judgement rulegebundenen Ermessen der Unternehmensführung. Es handelt sich dabei um eine klassische Entscheidung unter Unsicherheit, bei der im Rahmen einer Prognoseentscheidung eine Abwägung der Kosten und des erwarteten Nutzens einer Klage oder sonstiger verjährungshemmender Maßnahmen vorzunehmen ist. Die Beurteilung des Vorstands im Zeitpunkt der Entscheidungsfindung muss aus der Sicht eines ordentlichen Geschäftsleiters vertretbar erscheinen. Dabei fordert die Rechtsprechung von den Unternehmenslenkern, in der konkreten Entscheidungssituation aus der maßgeblichen ex-ante-Sicht alle verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art auszuschöpfen, um auf dieser Grundlage die Vor- und Nachteile der bestehenden Handlungsoptionen sorgfältig abzuschätzen und den erkennbaren Risiken Rechnung zu tragen. Sie müssen insofern vor allem die Erfolgsaussichten einer entsprechenden Klage einschätzen.

Irrationales Desinteresse an Musterfeststellungsklagen aus Unternehmenssicht 

Das macht die Sache gegenwärtig tricky für Unternehmenslenker. Die fortdauernde Diskussion über die „Dieselthematik“ und die möglicherweise bestehenden Schadensersatzansprüche von Autokäufern und Leasingnehmern sowie die gegen VW anhängige Musterfeststellungsklage geben hinreichend Anlass, Schadensersatzansprüche auch auf Unternehmensseite zu prüfen und diese Prüfung zu dokumentieren. Um bloße Streuschäden handelt es sich insofern nämlich auf Unternehmensseite nicht. Geht man von bei Käufern von einem möglichen Schaden irgendwo zwischen 10 und 25 % des Neuwagenpreises aus, kommen bei mehreren hundert oder tausend Fahrzeugen im Flottenbestand eines Unternehmens schnell auch für Großunternehmen signifikante Beträge zusammen. Spätestens wenn die für die Verbraucherseite eingelegte Musterfeststellungsklage erfolgreich sein wird, wird es für Unternehmenslenker, die keine Maßnahmen zur Unterbrechung der parallel dann zu bejahenden Ansprüche ihres Unternehmens getroffen haben, ungemütlich werden. In der gegenwärtigen Situation ist das Absehen von diesen Maßnahmen möglicherweise zwar noch begründungsfähig, auf jeden Fall aber ist es begründungsbedürftig.

Die Existenz der Musterfeststellungsklage von Verbraucherseite ist in diesem Zusammenhang auch für Unternehmen möglicherweise durchaus relevant, zumindest soweit es nicht um geleaste, sondern um gekaufte Fahrzeuge geht. Nach dem neuen § 148 Abs. 2 ZPO können nämlich auch Individualkläger, die keine Verbraucher sind, die Anordnung der Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung des Musterfeststellungsverfahrens beantragen. Dafür muss nur die Entscheidung des Rechtsstreits von Feststellungszielen abhängen, die den Gegenstand eines anhängigen Musterfeststellungsverfahrens bilden. Damit können, wenn diese Voraussetzung vorliegt, auch Unternehmen in gleichgelagerten Fällen von der zu erwartenden faktischen Präzedenzwirkung des Musterfeststellungsurteils in einem anhängigen Musterfeststellungsverfahren profitieren. Dieser Umstand ermöglicht es ihnen, Kosten zu sparen. Und das könnte möglicherweise den Ausschlag geben für eine Entscheidung zugunsten einer Klageeinlegung noch vor Jahresende.

Vor dem Hintergrund eines Bestrebens, sich vor einer späteren Haftung zu schützen, dürfte  auf jeden Fall das gegenwärtige Desinteresse von Unternehmen an dem neuen Institut der Musterfeststellungsklage irrational sein.

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